Ludwig Hänsel lernte Ludwig Wittgenstein Anfang 1919 während der Kriegsgefangenschaft bei Cassino kennen. Dort führte ihn Wittgenstein in die Grundlagen der modernen Logik ein und besprach mit ihm das Manuskript seiner »Logisch-Philosophischen Abhandlung«, womit Hänsel zu den ersten Lesern des »Tractatus« gehörte. Auch die gemeinsame Lektüre von Kants »Kritik der reinen Vernunft«, der »Confessiones« des Augustinus und von Werken Dostojewskis stand am Beginn einer gegenseitig befruchtenden Freundschaft, die bis zum Tod Wittgensteins im Jahr 1951 hielt.
Nach dem Krieg, als Wittgenstein inkognito als Volksschullehrer in einem Dorf leben wollte und sich von seiner Familie distanzierte, erscheint Hänsel als Vermittler zwischen dem Freund und dessen Mutter und Geschwistern. Dennoch wird Hänsel in den zahlreichen Wittgenstein-Biographien, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt.
Der vorliegende Band stellt ihn erstmals in den Vordergrund und bringt einige seiner Aufsätze, die ihn als integrale Figur des Österreichischen Geisteslebens vorstellen. Im Mittelpunkt steht die großteils noch unveröffentlichte Korrespondenz Wittgenstein-Hänsel, darunter ausführliche Briefe Wittgensteins aus den 1930er-Jahren, in denen sich »die schlichte Gewalt seiner Persönlichkeit« eindrucksvoll mitteilt.
Der Briefwechsel dokumentiert ausgedehnte philosophische Diskussionen über verschiedene Themen und Personen der klassischen Philosophie (z. B. Nikolaus von Kues, Baruch Spinoza). Für Wittgenstein eröffneten sich im Dialog mit Hänsel, der ein großes akademisches Wissen besaß, neue Perspektiven: Hänsel verstand es, seinen Freund für Dinge zu interessieren, die er bei Russell und Frege nicht finden konnte. Vor allem aber: Wittgenstein und Hänsel versuchten beide eine »praktische Ethik« zu verwirklichen, die wenig mit universitätsphilosophischen Ethik-Konzepten zu tun hat, hingegen für das Leben auch unserer Zeit von unmittelbarer Bedeutung ist.
Ergänzt wird die Sammlung durch Briefe von Angehörigen Wittgensteins, von seinem Freund, dem Bildhauer Michael Drobil, sowie von seinem Schüler Ernst Geiger. Der ausführliche Kommentar zu den einzelnen Briefen wurde vom Hintergrund kulturwissenschaftlicher Ansätze her angefertigt und wird durch Darstellungen zu wichtigen theoretischen, biographischen und philosophischen Fragen ergänzt.